30. November 2008
Liebe Freunde,
ich möchte mich für die vielen Zuschriften und Anrufe bedanken, die alle Euer Mitgehen und Beteiligtsein zum Ausdruck bringen. Jede einzelne Reaktion ist für mich wichtig. Sie drücken aus, dass ich gewünscht bin, und geben mir zusätzliche Kraft für die auf mich zukommende Therapie. Danke.
Die Schonfrist ist vorbei, morgen geht es los. Mein Kopf wird mit einer Atombombe zerschossen. Nicht der ganze, nur ein Teil davon. Der schlechte Teil. In sechs Wochen, so die Prognose und meine Hoffnung, bestehe ich nur noch aus meinem guten Teil.
Entschuldigung – mein Galgenhumor gehört auch zu meiner Bewältigungsstrategie. Auch bei meiner Stent-Implantation vor 6 Jahren habe ich überall verkündet, ein Eisenrohr wird in mein Herz gestochen, wodurch es wieder gesund werden soll. In der Zwischenzeit habe ich zwar herausgefunden, dass Stents nicht aus Eisen, nicht einmal aus Metall angefertigt werden, aber der Spruch hat sich so gut angehört …
Von den ABC-Waffen wird in der Therapie auch noch C eingesetzt. (B wird zwar häufig ebenfalls empfohlen, aber ich bin kein Alternativ-Fan: Bio-Krebsbehandlung ist nicht gerade das, worauf ich mein Vertrauen setzen möchte.) Dies – die Chemotherapie – wird vermutlich das Unangenehmste im Prozedere sein. Es ist zu erwarten, dass ich eine Weile künstlich ernährt werden muss, weil das Schlucken so schmerzhaft sein wird. Wenn ich mir die ganzen Nebenwirkungen so ausmale, ist mir … – na ja, jetzt müsste ich schreiben mulmig zumute, oder bange, oder Angst, aber das stimmt nicht.
Das ist das zweite Erstaunliche an der Geschichte. von dem ersten, der totalen Abwesenheit von Todesangst, habe ich schon berichtet (). Viele sagen, der Tod sei nicht so schlimm, das Sterben sei schlimm, das damit verbundene Leiden und die Schmerzen – das, was (auch ohne Tod) jetzt auf mich mit der Therapie zukommt. Man hört Horrorgeschichten und ich habe das Blatt mit allen möglichen Nebenwirkungen unterschrieben, die auftreten können…
Bis jetzt habe ich ein weitgehend schmerzfreies Leben geführt und auf das bisschen, was es doch gab, habe ich eher schlecht reagiert: Bei Blutabnahme wurde mir schon oft schlecht und das Schlimmste an jeder Warzenentfernung ist der erste Stich für die Anästhesie. Da muss ich wieder an die Anfangszeit meines neuen Lebens zurückdenken, als ich vor 32 Jahren das erste Mal als Gläubiger wieder zum Zahnarzt musste. Bis dahin zögerte ich den Gang immer wieder hinaus, weil ich immer Angst hatte. (Meine Zähne sind wohl wegen der Nachkriegsernähung als Baby und der zahnärztlichen Versorgung in den 50-ern/60-ern in Osteuropa ziemlich schlecht.) Das Verständnis, dass Jesus Christus am Kreuz viel Schlimmeres erleiden musste, überwand damals meine Angst vor Schmerzen. Seitdem bin ich zwar kein leidenschaftlicher Zahnarztbesucher geworden, aber es macht mir nichts aus, Bohren und Füllen ohne Spritze zu ertragen.
Jetzt weiß ich nicht genau, welche Leiden auf mich zukommen. Aber die Angst davor ist völlig weg. Jesus am Kreuz hat nicht nur Schmerzen erleiden müssen, sondern hat sich auch von Gott verlassen gefühlt (daher ist eins seiner letzten Worte: „Oh Gott, oh Gott, warum hast du mich verlassen?“). Seinem Opfer kann ich jetzt verdanken, dass mir gerade das Gegenteil passiert: Ich fühle mich von Gott dermaßen getragen, wie noch nie in meinem Leben. Ich kann mich ihm völlig anvertrauen und von ihm erwarten, dass das, was er mir zumutet, auch erträglich sein wird und er mir auch die Kraft dazu geben wird.
Seelisch-emotional geht es mir daher hervorragend; gemessen an den Umständen eigentlich unnatürlich gut. Körperlich … – das ist so eine Sache. Ich werde schwächer, und ich denke, ständig etwas Fieber zu haben. Meine Klagen (Ohrensausen, Pulsieren, Kopfschmerzen und so – mitten in der Nacht nehme ich immer eine halbe Schmerztablette, um schlafen zu können) werden täglich oder eher wöchentlich stärker, daher bin ich des Wartens satt. Ich freue mich richtig auf die Therapie – so absurd es sich auch anhört. Das Ding in meinem Kopf soll nicht weiter wachsen, es soll zerschossen werden! Selbst wenn es etwas Weh tut.
Praktisch sieht es so aus, dass ich morgen (am 1.12.08) früh stationär in die Virchow-Klinik (gleich neben der TFH) aufgenommen werde (für eventuelle Besucher: Station 61 in der Radiologie), zu Anfang aber wahrscheinlich nur für einige Tage. Später – für die künstliche Ernährung – wahrscheinlich noch mal etwas länger. Sonst wird mich meine Frau täglich zur Bestrahlung transportieren, was körperlich ziemlich beanspruchend sein soll. Anschließend werde ich grüner leuchtende Zähne haben als ganz Tschernobyl :-). Die Bestrahlung wird mit modernster (experimenteller?) Technik punktgenau von täglicher MRT-Kontrolle gesteuert durchgeführt. Hoffentlich haben wir unseren Medizininformatikern an der TFH Qualitätsmanagement gut genug beigebracht, sodass sie bei der Softwareentwicklung keine Fehler übersehen haben – die gesunden Zellen sollen weitgehend verschont bleiben.
Unterstützend dazu bekomme ich eine leichtere Sorte von Chemotherapie, was sich etwas tröstlich anhört. Sie soll auch meine geschwollenen Lymphknoten wieder zur Ruhe bringen, die schon ein Zeichen dafür sind, dass weiteres Warten kein gutes Ende haben würde…
Ich muss von noch einem Aspekt berichten, nach der tiefen Gotteserfahrung vielleicht das Beste in dieser Geschichte. Es ist meine Familie. Mit meiner Frau haben wir die zwei schönsten (konfliktfreiesten) Wochen unserer Ehe verbracht (warum muss man dazu Krebs bekommen?!) und mit den Kindern ist meine Gemeinschaft (teilweise per Skype oder Telefon) intensiver und tiefer als je zuvor. Ich verbringe meine (übrig gebliebene?) Zeit nicht mehr im Arbeitszimmer (hab sogar die Heizung abgeschaltet) sondern im Wohnzimmer und genieße das Leben. (Auf English heißt es doch living room.) Ich sitze vor dem Kaminfeuer (da es mir häufig kalt ist; die Wärme tut besonders meinem Gesicht und Ohr gut), überlege ab und zu, ob ich noch was zu erledigen habe – und es fällt mir nichts ein. Meine Frau merkt mein Wohlergehen daran, dass ich mehr Klavier spiele als irgendwann in den letzten Jahren: lange nicht mehr gespielte Sonaten, Fugen, alte und neue Lobpreislieder. Ich denke dabei auch nach. Mein Rückblick bestätigt, dass mir die Fülle des Lebens zuteil geworden ist; man kann sich nichts mehr wünschen. Ob es sich noch fortsetzt oder nicht, ob mit Schmerzen oder ohne – ich kann dafür meinen Gott nur loben und ihm danken.
Ich grüße euch alle ganz herzlich
Andreas Solymosi