Kolchosdose

Kolchosnyj jaschtschik („Kolchosdose”) war die Bezeichnung des Lautsprechers in jedem Zimmer des Studentenwohnheims im Leningrad der Sechziger. Er hatte weder einen Lautstärkeregler noch einen (Aus)Schalter und verkündete 16 Stunden am Tag die Nachrichten des Propagandasenders Маяк („Leuchtturm”) aus Moskau. Um Ruhe im Zimmer zu bekommen, war die einzige Möglichkeit, das Anschlusskabel zu lockern und zeitweise aus der Wand zu ziehen. Wenn aber der Komsomolsekretär des Wohnheims es mitbekommen hat, wurde das Zimmer von oben gerügt.

Das hat meinem Russisch gut getan – deswegen schalte ich auch den spanischen öffentlich-rechtlichen (TVE, so etwas wie ARD) Nachrichtensender 24 horas (24 Stunden) so häufig auf unserem Fernseher ein. Allerdings bin ich 50 Jahre älter und die Sprache klebt nicht mehr so schnell in meinem Gehirn, ich bin noch nicht so weit, dass ich einen großen Unterschied feststellen könnte; aber bei den deutschen Nachrichten ist es offensichtlich: Sie verdienen die Bezeichnung genauso wenig wie die Nachrichten des Маяк. Die kommunistische Ideologie hat sich zumindest zur Bezeichnung „Propaganda” bekannt. Es war ihr explizites Ziel, durch Agitation „den Neuen, Sozialistischen Menschentyp” zu schaffen, der anders denkt (eben so, wie die Partei das „Richtige”, das „Gute” definiert) als der alte, vom „bourgeoisen Imperialismus und Klerikalismus irregeführte”. Deswegen 16 Stunden am Tag und 5 Jahre lang Manipulation, Umerziehung, Gehirnwäsche. Damals, weil ich nichts anderes kannte, war es für mich normal und selbstverständlich; ich bin ja von unserer Regierung dorthin geschickt worden „nicht dass ich ein Mathematiker werde, sondern dass ich ein sozialistischer Mathematiker werde”. Weil das nicht so ganz geklappt hat, bin ich heute natürlich entsetzt darüber, dass im ARD/ZDF dasselbe läuft.